2020 hat ORF laut Programmdirektorin wahrnehmbarer gemacht

Starke Reichweitenzuwächse, Top-Einschaltquoten bei den Nachrichtensendungen (die Verkündung des ersten Lockdowns am 15. März erreichte fast drei Millionen Seherinnen und Seher, die Bekanntgabe des zweiten Lockdowns sahen etwas über zwei Millionen), der Wegfall von zahlreichen Alternativen zur Freizeitgestaltung und damit der Wiedergewinn einer Stellung, die längst verloren gegangen schien – für den ORF war 2020 trotz aller Herausforderungen kein schlechtes Jahr.

„Es war tatsächlich ein Ausnahmejahr, und der Ausnahmezustand ist noch nicht zu Ende“, zieht ORF-Programmdirektorin Kathrin Zechner im Gespräch mit der APA Bilanz. „Ich muss zugeben: Manches davon hätte ich lieber nicht erlebt. Aber Herausforderungen sind dazu da, um sie zu meistern. Und am Besten gelingt einem das mit kühlem Kopf und gelassener, konzentrierter Professionalität.“ Eine besondere Herausforderung sei die hohe Reaktionsgeschwindigkeit gewesen, „die es im Bereich der Unterhaltung oder des Sports gebraucht hat, um sehr flexibel Ersatzprogramme hineinzuheben auf große Flächen, die ausgefallen sind und parallel dazu Sicherheitsrichtlinien zu entwickeln sowie mit der Politik und der Filmwirtschaft zu verhandeln“.

Die vielfache Notwendigkeit zur Live-Improvisation habe auch die Kundenbindung gestärkt, so Zechner: „Ein viel größeres Publikum als noch vor zwei Jahren hat gesehen, wie wir arbeiten. So musste der aktuelle Wissenschaftschef an die Front treten, ein großartiger, doch öffentlichkeitsscheuer Kollege, der plötzlich sichtbar werden musste und das mit Fachwissen und Formulierungsgabe toll gemacht hat.“ Günther Mayr wurde dafür zu Jahresende vom Branchenmagazin „Der österreichische Journalist“ mit einem Sonderpreis bedacht. „Die Stärken des ORF sind in dem Jahr wieder besonders spürbar geworden. Das Publikum konnte sehen, wie professionell wir arbeiten, aber auch wie kreativ dieses Land ist. Das hat uns wieder wahrnehmbarer gemacht. Diese Chance, zu beweisen, was das Potenzial dieses Hauses ist, haben wir über weiteste Strecken sehr gut genützt.“

Eine weitere Herausforderung sei die sozialpsychologische Sondersituation gewesen, in der sich das Land seit Mitte März befunden habe, schildert die Programmdirektorin: „Es braucht nicht nur Professionalität, sondern auch soziale Intelligenz, um in so einer Situation von Angst und Verunsicherung im Programm die richtige Balance zwischen Informationsbedürfnis und seelischer Erholung anzubieten. Das Bouquet muss stimmen. Das ist meine oberste Richtlinie.“

Dass der ORF Programmentscheidungen von schwer messbaren Befindlichkeiten der Zuseherinnen und Zuseher abhängig mache und so – etwa mit der Verschiebung von Schirachs Sterbehilfe-Projekt „Gott“ nach dem Wiener Terroranschlag – das Publikum bevormunde, diese Gefahr sieht Zechner nicht: „Ich bin überzeugt, dass wir da richtig entschieden haben. Nicht, weil ich mich als schützende Übermutter der Nation verstehe, sondern weil ich meine Verantwortung wahrnehme. Im damaligen Zustand der Verunsicherung haben wir entschieden, dass wir ausreichend mit der Bedrohung von Leib und Leben beschäftigt sind. Ich halte es aber für wichtig, dass wir diese essenziellen Fragen von Recht und Gerechtigkeit, Ethik und Moral, die Ferdinand von Schirach in seinen Projekten – wie auch in „Feinde“ (morgen, am 3. Jänner ab 20.15 Uhr auf ORF 2, Anm.) – anspricht, in unserem Programm haben, weil sie zur Wachheit eines gesellschaftlichen Diskurses enorm beitragen können. Deswegen werden wir ‚Gott‘ Ende März, gegen Ostern hin, zeigen.“

Während lineares Fernsehen in den vergangenen Jahren enorm unter Druck geraten ist, brachte 2020 ein Revival der ORF-Sendungen als mediales Lagerfeuer der Nation. „Es hat sich gezeigt, dass es zwar einen enormen Wandel in der Technologie und in der Art des Medien-Konsums gibt, aber gar keinen Wandel darin, dass das Publikum auf der einen Seite verlässliche, hervorragend recherchierte Information will und braucht, und auf der anderen Seite die großen, gut erzählten Geschichten“, so Zechner, die freilich zugibt, dass sich auf der technischen Seite nahezu alles verändert hat: „Unsere Generation hat viele Technologiesprünge erlebt. Dadurch kommt es zu einem unglaublichen Boost an Erzählformen. Mein Leben als Programmmacherin als auch das Leben des Publikums wurde dadurch unendlich bereichert. Die Frage ist, ob wir Medien mit der Technologie schritthalten und ob wir eine Form des Erzählens finden, die aus dem Meer der Angebote herausragt.“

Das Vorzeigeprojekt dafür soll der ORF-Player sein, für dessen Umsetzung erst die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen werden müssen. „Wir sind so etwas wie das Hochquellwassernetz Österreichs im medialen Sektor. Es muss uns ermöglicht werden, die alten Bleirohre zu ersetzen“, zieht Zechner einen analogen Vergleich. „Ich habe tiefes Vertrauen, dass die Eigentümervertreter erkennen, dass wir die Technologie und die Verbreitungswege brauchen, die uns zur Zeit weitestgehend gesetzlich nicht ermöglicht sind.“ Dazu zählen dezidiert auch rein digitale Angebote: „Wir müssen Ergänzungen zu linear auch digital anbieten. Das Ziel ist, die Möglichkeit zu bekommen, sowohl digital first als auch digital only als auch als add on produzieren zu können.“

Dass gerade in einer Zeit, in der der weltweite Tourismus weitgehend zum Erliegen kam, das Österreichische in den Programmvorhaben besonders hervorgehoben wird, hält Zechner nicht für den verkehrten Weg: Das hohe Gut der Unabhängigkeit ist eine finanzielle Unabhängigkeit. Dass geschätzt wird, dass wir Gesicht und Stimme des Landes sind, ist die Basis dafür“, sagt sie. „Die Betonung des Österreichischen darf keine Nabelschau sein. Was fehlt, ist ein gesundes Selbstwertgefühl beim Sichtbarmachen des gewaltigen kreativen Potenzials dieses Landes.“ Das gelte auch für internationale Zusammenarbeiten wie etwa bei der Netflix-Koproduktion „Vienna Blood“ oder bei der anerkannt hohen Qualität von Dokumentationen. Nach „Universum“ und „Universum History“ werden man auch „eine ‚Universum Science‘-Schiene aufsetzen“.

Im August steht die Wahl des ORF-Generaldirektors an. Kommen – wie in der Politik – nun Monate, in denen vorwiegend Wahlkampf betrieben wird und keine Entscheidungen mehr getroffen werden? Zechner lacht. „Ich arbeite seit 1987 hier im Haus, mit einer Unterbrechung von fünf Jahren Holland und zehn Jahren Theater dazwischen. 98 Prozent der Menschen hier sind damit beschäftigt, unser Produkt mit uneingeschränkter Begeisterung herzustellen. Das ändert sich – entgegen der immer wiederkehrenden Behauptung mancher Beobachter – auch in dem halben Jahr vor der Wahl der Generaldirektion nicht. Es ist weiterhin vieles möglich. Entscheidend für das Programm ist schlicht und einfach: Hast du die Vision, die Mittel, die Überzeugungskraft und den Mut, ein Produkt herzustellen?“

Ambitionen, selbst den höchsten ORF-Posten zu erklimmen, hat sie nicht, aber daran, dass sie auch künftig als Programmdirektorin gestalten möchte, lässt sie keinen Zweifel: „Programm zu schaffen im weitesten Sinne ist meine Passion seit 35 Jahren. Was daraus wird, wird sich zeigen. Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass ein bestes Team dadurch entsteht, dass jeder das tut, was er am besten kann. Ich beschäftige mich 80 Prozent meines Lebens damit, Programm zu machen. Meine Begeisterung dafür, die Verantwortung zu haben, Fakten und Recherche vor Fake und Geschwindigkeit zu stellen, ist sichtbar – und daran hat sich auch nichts geändert.“

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)