Mit Komplexitätsforschung „explosiven Übergängen“ vorbeugen

Die Komplexitätsforschung begreift die Welt als Netzwerk, über dessen Verbindungen sich Rückschlüsse auf viele Phänomene ziehen lassen. Will man aber abschätzen, wann es zu explosionsartigen Veränderungen wie der raschen Ausbreitung eines Gerüchts in sozialen Medien kommt, gelinge das mit herkömmlichen Analysen von Beziehungsgeflechten kaum. Hier müsse man auf die übergeordnete Ebene blicken, so Federico Battiston von der Central European University (CEU) in Wien.

Nicht zuletzt mit der Zuerkennung des Physik-Nobelpreises 2021 an den Italiener Giorgio Parisi hat das Feld der Komplexitätsforschung viel Aufmerksamkeit erfahren. Hierzulande waren und sind es vor allem Wissenschafter aus diesem Bereich, die auch die Corona-Pandemie als Teil des Prognosekonsortiums mitbegleiten, die das Feld prägen. Battiston, der selbst Kurse bei Parisi an der Sapienza Universität in Rom belegt hat, wertet den Nobelpreis „als große Auszeichnung für das erweiterte Gebiet der komplexen Systeme“, die Parisi „absolut verdient hat“, so der CEU-Forscher im Gespräch mit der APA.

In Kooperation mit Kollegen ging Battiston kürzlich in einem Perspektivenartikel im Fachjournal „Nature Physics“ auf einen Ansatz ein, bei dem komplexe Netzwerke als mehr als die Summe der Interaktion zwischen immer zwei Teilnehmern gesehen werden. „Wir haben Gruppeninteraktionen oder ‚höhere Interaktionen‘ bisher nicht so behandelt, wie sie es verdient hätten“, sagte der Physiker.

So könnte man etwa eine Gruppe von drei Forschern hernehmen, von denen jeweils zwei je eine gemeinsame Arbeit veröffentlicht haben. In diesem Fall sind diese Personen im Netzwerk verbunden. „Es ist aber etwas komplett anderes, wenn alle drei zusammensitzen und gemeinschaftlich eine einzige Arbeit schreiben“, erklärte Battiston. Mit traditionellen mathematischen Herangehensweisen würde man aber keinen Unterschied zwischen diesen verschiedenen Dreiecksbeziehungen erkennen.

Das wäre aber wichtig, wenn es etwa darum geht, Fragen zur schwer fassbaren Weitergabe von Meinungen in virtuellen sozialen Netzwerken zu beantworten. Geht es zum Beispiel um ganz handfeste Infektionen, wie mit dem SARS-CoV-2-Virus, bedeutet jedes Treffen mit jemandem eine gewisse Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren. Trifft man weitere Personen, steigt die Chance auf eine Infektion im Schnitt entsprechend. Bei „sozialen Ansteckungseffekten“ folge dies aber nicht nur dieser Logik, so Battiston.

Die „kritische Masse“

So gebe es hier auch Effekte von kritischen Massen. Ist man etwa von Fans einer bestimmten Fußballmannschaft oder Sympathisanten einer bestimmten politischen Partei umgeben, kann das einen entsprechenden Effekt auf die eigene Einstellung haben. „Sind sozusagen genügend Leute im Umfeld ‚infiziert‘, hat man selbst eine höhere Tendenz sich anzupassen und selbst ‚infiziert‘ zu werden.“

Mit solchen übergeordneten Strukturen ließen sich zum Beispiel Meinungsumschwünge im virtuellen Raum besser fassen, die manchmal scheinbar urplötzlich und sehr schnell ablaufen. Kursiert beispielsweise ein Gerücht, das aber noch nicht mehrheitsfähig ist, setzt es sich dann leichter durch, wenn viele Leute im näheren Umfeld es zumindest schon einmal gehört haben. Das erkläre, dass derartige Gerüchte oft lange auf kleiner Flamme dahinköcheln, ohne aber richtig breitenwirksam zu werden. Wird aber im Zuge dieser Art „Gruppeninfektion“ ein kritischer Punkt erreicht, kann daraus ganz plötzlich eine größere Bewegung entstehen, so Battiston. Mit der Berücksichtigung solcher höheren Interaktionen könne man diese schwer zu analysierenden, dynamischen Phänomene besser verstehen, die sich auch in verschiedenen Bereichen der Physik immer wieder zeigen.

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